© Deutsche Mugge (2007 - 2025)
WIR: "Metamorphosen" (Album-Box)

wir25 1 20250612 1490470132VÖ: 15.09.2023; Label: ROKKfilm; Katalognummer: RFBOX 001-001-002-003; Musiker: Doris Martin (Gesang), Wolfgang Ziegler (Gesang, Keyboards, Gitarre), Ingolf Zwick (Gitarre), Hartmut Podlech (Gitarre), Rainer Bloss (Bass), Uwe Karsten (Bass), Carsten Mohren (Keyboard), Thomas Schock (Keyboard), Hans-Joachim Kluge (Schlagzeug); Produzent: Jens-Uwe Berndt & Jörg-Rainer Friede; Mastering: Jörg-Rainer Friede; Booklet-Texte: Jens-Uwe Berndt; Bemerkung: Auf 500 Einheiten limitierte 3-LP-Box (die ersten 150 Exemplare kamen in buntem Vinyl und mit von Wolfgang Ziegler signiertem Zertifikat) mit 16-seitigem Booklet und Poster;

Titel:
LP 1: (Konzert vom 25. März 1978) "Eisberg", "Nach dem Konzert", "Zeit"
LP 2: (Konzert vom 29. Januar 1983) "Und sie dreht sich soch", "Lasst mir meine Träume", "Eisberg", "Mach Dich frei", "Nummer 1 Song", "Sie will weg", "Traum vom Fliegen", "Nie mehr", "Nach dem Konzert"
LP 3: (Konzert vom 15. Oktober 1986) "Space Funk (Intro)", "Ekstase", "Lass mich in Ruhe", "Mädchenträumereien", "Geboren um zu leben", "Superschlank", "Abschieds-Blues"


Einleitung:
Was hat eine gerade mal zwei Jahre alte Platte bei uns schon in den Klassikern zu suchen? Das ist eine gute Frage, die auch berechtigt ist. Im Falle dieser Dreier-LP-Box ist die Antwort schnell gegeben: Auf allen drei LPs befinden sich Konzertklassiker aus den Siebzigern und Achtzigern - liebevoll restauriert und für die Veröffentlichung auf Vinyl aufbereitet. Diese gesamte Box ist schlicht und ergreifend Geschichte pur, zumal die hier präsentierten Mitschnitte dreier Konzerte zum ersten Mal auf einem Tonträger zu haben sind.

"Metamorphosen" heißt diese Vinyl-Box der Gruppe WIR. In der Musik steht der Begriff "Metamorphose" für eine komplexe Verwandlung eines musikalischen Themas. Das haut hier nicht so richtig hin - auch wenn die Klassiker von WIR aus den 70ern über die Jahre hinweg sicher gereift sind und später anders klangen, blieben sie doch Zeugen ihrer Zeit, deutlich wiedererkennbar. Aber schon in der Definition aus dem Fachbereich Botanik - "die Metamorphose ist die evolutionäre Anpassung einer Pflanze" - kommen wir der Sache näher. Die Gruppe WIR hat in der Zeit ihrer Existenz zwischen 1972 und 1986 nämlich so einige Häutungen durchgemacht. Sei es personell (außer Bandgründer Wolfgang Ziegler war niemand bis zum Schluss dabei) oder musikalisch. Gestartet im klassischen Rock, in dem Elemente von Beat, ProgRock, Psychodelic Rock, Art-Rock und Hardrock verbaut wurden, endete man schließlich im Pop, mit Einschlägen von New Wave, Elektronik und sogar Schlager - zumindest bei den Studioproduktionen. Live hingegen verleugnete man nie seine Wurzeln und blieb dem Rock auch bei massentauglicheren Klängen treu. Auf einen Blick (bzw. auf ein Ohr) zu hören ist das auf der bislang einzigen Best-of-Zusammenstellung, die 2007 bei AMIGA im Zuge ihres 60. Firmenjubiläums in der achten Sammelbox erschienen ist. Aber wesentlich deutlicher lässt sich das nun mit dieser neuen 3er-Vinylbox nachvollziehen, die wir euch hier vorstellen.
 
wir25 3 20250612 1782484235


LP 1: 25. März 1978 - West-Berliner Eissporthalle
Von einem kompletten Konzert ist man hier noch weit entfernt. Es handelt sich um den Auftritt von WIR in einer Sondersendung der vom ZDF produzierten Reihe "Pop/Rock". In der Besetzung mit Doris Martin (Gesang), Wolfgang Ziegler (Gesang, Keyboards, Gitarre), Ingolf Zwick (Gitarre), Rainer Bloss (Bass) und Hans-Joachim Kluge (Schlagzeug) präsentiert uns das Ensemble aus dem "anderen deutschen Staat" drei Stücke aus seinem Repertoire.

Der Titel "Zeit" nimmt mit über 19 Minuten eine komplette LP-Seite ein. Auch "Eisberg" und "Nach dem Konzert" werden in heute nicht radiotauglichen Längen gespielt. Nett vom ZDF-Moderator angekündigt, macht sich die Band gleich an die mitreißende Unterhaltung des Berliner Publikums - und das gelingt mit "Eisberg" umgehend. Auf einem schwingenden Keyboard-Teppich breiten sich ein flotter Beat, eine scharf gespielte Gitarre und die Gesangsstimmen von Doris Martin und Wolfgang Ziegler aus. Ruckzuck ist man im Geschehen, und der Rock-Zug - inkl. heißem Gitarrensolo von Ingolf Zwick - hat Fahrt aufgenommen. Die Nummer erinnert stellenweise an die Les Humphries Singers - aber dieser Gedanke verfliegt, sobald der Rock zündet. Das Publikum bedankt sich am Ende mit lautstarkem Applaus - zu Recht - ehe die Kapelle mit "Nach dem Konzert" nachlegt.
Dieses Stück in dieser Version hatte ich tatsächlich schon vor ein paar Jahren in meiner Radiosendung gespielt, als Wolfgang mein Gast war und es mitbrachte. Die Reaktionen waren durchweg positiv. Schon da habe ich mich gefragt, warum so eine scharfe Aufnahme nicht längst das Licht der Welt erblickt hat. Die Studioversion kommt auf dem Debütalbum mit schlappen 4:30 daher - beim Konzert blähte man das Werk zu einer fast achtminütigen Hymne auf. Hier lässt man Pink Floyd durchblicken - nicht als Kopie, sondern als Fortsetzung und Verfeinerung dessen, was die Briten vorgelegt hatten.
Die Rückseite der LP gehört - wie erwähnt - allein dem Stück "Zeit". Der Song war bereits 1978 auf der gleichnamigen LP in einer 15-minütigen Version erschienen, wurde hier aber um vier Minuten verlängert. Es ist ein waschechter Deutschrocker mit psychedelischem Ausflug, bei dem sich Zieglers Keyboard und Zwicks Gitarre gegenseitig hochschaukeln. Am Ende gipfelt alles in einem fulminanten Drum-Solo. Improvisation? Kreative Ausschmückung? Nennt es, wie ihr wollt - es ist eine Messe, die hier zelebriert wird. Jeder Musiker bekommt Raum, sich zu zeigen. Die Band lebt, reißt mit, begeistert. Und am Ende landet man wieder dort, wo man gestartet ist. Was für ein Feuerwerk!
Fun Fact: Die Sängerin Doris Martin war Anfang der 80er nach ihrem Umzug in die BRD Teil der Gruppe SUNDAY, die von Dieter Bohlen produziert wurde - inklusive seiner Mitwirkung als Sänger. Das aber kam nicht ansatzweise an das heran, was Doris bei WIR abgeliefert hat …
 
wir25 4 20250612 1844756571


LP 2: 29. Januar 1983 - Palast der Republik, Ost-Berlin
Inzwischen ohne weibliche Stimme spielte WIR in der Besetzung Wolfgang Ziegler (Gesang, Keyboards, Gitarre), Hartmut Podlech (Gitarre), Uwe Karsten (Bass), Thomas Schock (Keyboard) und Hans-Joachim Kluge (Schlagzeug). Anlass war die Reihe "Rock für den Frieden". Nach einleitenden Worten von Sigmund Jähn ging es los - mit "Und sie dreht sich doch", einem meiner Lieblingssongs von WIR. In dieser über sechsminütigen Live-Version darf sich Gitarrist Hartmut Podlech ein großartiges Solo gönnen. Wie auch auf der Studiofassung (die erst ein Jahr später erschien), geht der Song live direkt unter die Haut.
Es folgen "Lass mir meine Träume" (vom 78er-Album Zeit), "Eisberg", "Traum vom Fliegen" und "Nach dem Konzert". Außerdem mit dabei: vier Stücke ("Mach Dich frei", "Nummer 1 Song", "Nie mehr" und "Sie will weg"), die auf keinem offiziellen WIR-Album zu finden sind - vermutlich Rundfunkproduktionen.

Insgesamt bietet die zweite Scheibe eine spannende Mischung aus Bekanntem, weniger Bekanntem und Rarem. Die Publikumsreaktionen sprechen für sich. Dass sich in den fünf Jahren zwischen beiden Konzerten einiges getan hat, ist besonders an den Songs "Eisberg" und "Nach dem Konzert" hörbar. Der Sound wurde moderner, knackiger - der Rocksound der 70er bekam Patina. Trotzdem schaffte es die Band, ihre Wurzeln zu bewahren.
 
wir25 5 20250612 1994277493


LP 3: 15. Oktober 1986 - Kreiskulturhaus Lobeda, Jena
Das letzte Konzert der Band fand in folgender Besetzung statt: Wolfgang Ziegler (Gesang, Keyboard), Hartmut Podlech (Gitarre), Uwe Karsten (Bass), Carsten "Beathoven" Mohren (Keyboards) und erneut Hans-Joachim Kluge am Schlagzeug. Nur noch neuere Songs sind zu hören - keine der Klassiker der ersten beiden Scheiben schaffte es auf die Platte. Ob sie trotzdem auf der Setlist des Konzerts standen, ist hier nicht überliefert. Der Sound ist stark an den Zeitgeist der 80er angelehnt: Funk, New Wave, Elektronik dominieren - aber WIR bleibt eine Rockband. "Mädchenträumerei" ist ein gutes Beispiel dafür, denn es verbindet diesen modernen Sound mit klassischem Gitarren-Rock.
Der Opener "Ekstase" kommt mit heftig geslapptem Bass, fettem Keyboard und treibendem Beat daher. Auch "Geboren um zu leben" lässt Platz für traditionelle Instrumente im neuen Soundbild.
Dem Disco-Sound frönte man dann schließlich bei der fast eine Viertelstunde andauernden WIR-Nummer "Superschlank", die einem tierisch in die Beine fährt und bei der im Mittelteil zur Musikervorstellung dank Herrn Karsten ein kurzer Ausflug in die Muppet Show unternommen wird. Und mag die Nummer stellenweise wie aus dem Soundtrack zu "Beverly Hills Cop" klingen, sorgt auch hier Hartmut Podlech einmal mehr mit seinem Spiel auf den sechs Saiten für die nötige Portion Rock in einem sonst eher im Pop zu verortenden Song.
Der letzte Titel auf der Platte, der "Abschieds-Blues", ist dann auch ein absoluter Ausreißer. Weg vom Pop und hin zum klassischen Blues, weg von der Muttersprache und hin zum Englischen. Inklusive herrlicher Soli auf Tasten und Gitarre. Mehr Abwechslung geht nun wirklich nicht.
Übrigens gab es auch in diesem Konzert mit "Lass mich in Ruhe" eine Nummer, die auf keinem Album von WIR zu finden ist und offenbar beim Rundfunk entstanden ist.
 
wir25 2 20250612 1706510077


Zur Ausstattung
Die Box enthält ein 16-seitiges Booklet und ein Poster. Frühe Käufer erhielten bunte Vinyls mit signiertem Zertifikat von Wolfgang Ziegler. Die spätere limitierte Auflage kommt in schwarzem Vinyl - aber mit identischem Inhalt und ebenso hochwertiger Aufmachung.

Fazit
Dass diese drei Konzertauszüge auf Vinyl erscheinen konnten, ist ROKKfilm zu verdanken - insbesondere dem Klangzauberer Jörg-Rainer Friede, der aus den alten Bändern ein echtes Hörerlebnis gemacht hat. Der Sound ist überragend - aufdrehen ohne Angst um die Boxen haben zu müssen ist ohne Gefahr möglich! "Metamorphosen" zeigt auf drei LPs die musikalische Wandlung von WIR zwischen 1978 und 1986 - personell wie stilistisch. Doch egal, wer auf der Bühne stand: Die Handschrift von WIR blieb immer erkennbar. Die Box ist ein tolles Zeitdokument - eine musikalische Ansichtskarte aus vergangenen Tagen. Viele Fans haben sich ein Comeback von WIR gewünscht. Dazu kam es nie - und wird es wohl auch nicht mehr. Umso schöner, dass man hier nochmal auf Zeitreise gehen darf. Damit dürfte die eingangs gestellte Frage beantwortet sein: Warum eine gerade mal zwei Jahre alte Vinylbox schon als Klassiker gilt. Der Inhalt ist es, die Aufmachung ist es, der Kult um WIR ist es, die das alles rechtfertigen.
(Christian Reder)





 
 

 

 

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.